Kleine Geschichten und widerwärtige Maschinerien

Kleine Geschichten und widerwärtige Maschinerien

Gespräch mit Johannes Hess und Fabian Kirchherr. In: eject. Zeitschrift für Medienkultur, Ausgabe 7: „Das Kleine“, Weimar 2017, S. 118-143.

Lieber Herr Gregory, Ihr erstes Buch trägt den Titel Wissen und Geheimnis. Das Experiment des Illuminatenordens.  Ihr zweites Buch heißt Mysterienfieber. Das Geheimnis im Zeitalter der Freimaurerei. Was interessiert Sie am Geheimnis?

Gerade in der Beschäftigung mit der Freimaurerei stößt man schnell darauf, dass hinter manchen Geheimnissen, die den Leuten wahnsinnig interessant vorkommen, einfach nichts ist. In einem Roman aus der Logenwelt des 18. Jahrhunderts wird bezeichnenderweise gesagt, dass das Geheimnis „ein verdeckter leerer Raum“ sei. Es gibt also unter Freimaurern immer auch den Verdacht, dass sie selbst es sind, die die Geheimnisse produzieren, von denen sie sich faszinieren lassen. Das hat mich zu der allgemeineren Frage geführt, wie Geheimnisproduktion funktioniert und was für Kulturtechniken der Geheimnisproduktion es gibt. Ich bin dabei auf bestimmte Konstanten gestoßen: Man braucht immer ein Medium der Verbergung, ein Medium des Entzugs, das etwas Zuhandenes außer Reichweite setzt, also dem Zugriff entzieht. Das sind in vielen Fällen optische Hindernisse, also beispielsweise Vorhänge, Schleier oder Gewänder, die etwas verdecken und damit andeuten, dass sich Unaussprechliches oder Unfassbares hinter dieser Barriere verbirgt. Bei den Freimaurern gibt es einen unglaublichen Kult um Medien der Verbergung wie Schlösser, Schlüssel, verdeckte Tapetentüren, doppelte Wände oder Hohlräume aller Art, wie Kisten, Kästen, Truhen, die mit martialischen Schlössern versehen werden. Auf diese Weise wird angedeutet, dass sich in diesen Behältnissen etwas sehr Wertvolles oder Geschätztes befindet. Diesen Praktiken der Verbergung entsprechen auf der anderen Seite Momente der kontrollierten Entbergung. Die ganze Verbergung würde nicht funktionieren oder auf Dauer glaubhaft sein, wenn man nicht gelegentlich den Schleier ein Stück weit öffnen würde, um in einem spektakulären Moment anzudeuten: Jetzt werden die Geheimnisse enthüllt, jetzt wird der Zugang geschaffen. Die Entbergung findet dann häufig unter Umständen statt, die eine klare Wahrnehmung nicht ermöglichen – zum Beispiel Dunkelheit oder Rauch.

Das ist ein Mechanismus, der in den Logen bis zum Exzess getrieben wird und der dafür sorgt, dass dieses ›Gesellschaftsspiel‹, wie ich es genannt habe, der Geheimnispflege im 18. Jahrhundert eine unglaubliche Beliebtheit hat – es wird von Menschen in ganz Europa gewissermaßen als Freizeitsport betrieben. Ich denke, die Sache war deshalb so erfolgreich, weil dieser Doppelmechanismus aus Ver­bergen und Entbergen dem gewöhnlichen Mechanismus unseres Begehrens entspricht. Wir investieren immer wie­der in bestimmte Objekte: Liebesobjekte oder Waren, eine bestimmte Neugier oder bestimmte Phantasien. Mit dieser Suggestion des Geheimnisvollen haben die Freimaurer, auch wenn sie sonst nicht viel geleistet haben, einen Mechanismus entdeckt, der für die heutige Massenkultur, beispielsweise in Werbung und Marketing, elementar geworden ist. Sie haben verstanden, wie Begehren funktioniert, und haben danach einen bestimmten kulturtechnischen Apparat in Gang gesetzt, wie ihn später auch Marketing- und Medienleute bedient haben, mit noch größerer Perfektion.

Sie sehen in diesem Paar aus Verbergen und Entbergen eine Konstante, die von der Zeit der Freimaurer bis heute Wirkung zeigt. Formiert sich diese Konstante mit den Freimaurern oder reicht sie weiter zurück?

Ich denke, es ist ein Grundzug unserer abendländischen Kultur, dass es bestimmte Momente der Auratisierung – der Heiligung könnte man sagen – gibt, die mit solchen Techniken des Entzugs zu tun haben. Vom antiken Mysterien-Theater über die christlichen Weihe-Fest­spiele und Liturgie usw. bis zu heutigen politischen oder auch massenkulturellen Inszenierungen. Das ist eigentlich ein bedauerlich einfacher Mechanismus. Man kann sagen, es ist schade, dass wir so einfach ticken: Wir begehren das, was man uns verbietet oder was man uns als rar und geheimnisvoll verkauft.

Man könnte darin einen Produktions-Katalysator sehen.

Man könnte es letztendlich sogar als creatio ex nihilo beschreiben. Angenommen – gegen die Intuition der Freimaurer oder der Gläubigen selbst –, dass hinter dem Geheimnis nicht viel ist, so wird doch um diesen leeren Kern herum eine unglaubliche Aktivität in Gang gesetzt. Diese Aktivität könnte man eine parasitäre Ökonomie nennen, in dem Sinn, in dem Michel Serres den Begriff des Parasitären verwendet hat: eine Ökonomie, die nicht auf gebrauchswerteschaffender Arbeit beruht, sondern auf kleinen Operationen der Abzweigung und Entwendung. So wird durch den simplen, unscheinbaren Mechanismus der Verbergung und Entbergung laufend Mehrwert, d.h. Sinn geschaffen, ein einfacher ökonomischer Trick, der unsere ganze Massenkultur am Laufen hält.

In diesem Zusammenhang finde ich das heutige Phänomen des Leakens interessant. Man könnte einerseits denken: tolle neue Art des Wahrsprechens für jemanden, der den Mut hat, sich gegen eine Verschwörung der Unwahrheit zu erheben und Verbrechen aufzudecken. Auf der anderen Seite habe ich durch die Gewöhnung an die freimaurerische Geheimnisaufblähung immer den Verdacht, dass diese ganze Kultur des Leakens in gewisser Weise dazu da ist, unser Interesse an die elendsten Formen des Politikbetriebs zu binden und damit jeden Gedanken an eine andere mögliche Politik zu verhindern. Wie sollen wir jemals politisch zur Besinnung kommen oder uns fragen, was wir eigentlich wollen, wenn wir ständig in einer Hysterie der Aufdeckung und der Empörung und des Weiterspinnens der herrschenden Machenschaften gefangen bleiben? Empörung ist gut und schön, aber viel­ leicht wäre es besser, eine radikale Abkehr von dieser ganzen Politik der lnformationsaufsparung, Informationsenthaltung und Informationsfreigabe zu betreiben.

Neben der Produktion von Geheimnissen interessiert Sie auch eine sehr spezielle Form der Entbergung: der Verrat. Worum geht es dabei?

Mich interessiert, wie durch einen winzigen Sprechakt – „Der und der sitzt in einem Keller in der XY-Straße, dort könnt ihr ihn finden.“ oder „Ich sage euch jetzt mal den Anfangsbuchstaben des Namens von der Person die ihr sucht.“ – oder durch einen Federstrich oder ähnliches, also durch sehr kleine Handlungen, im Leben eines Subjekts eine unglaubliche Umkehrung ausgelöst werden kann – Deleuze und Guattari nennen das eine körperlose Transformation. (1) Mich interessiert der winzige Stups im Leben eines Menschen, der den Verlust seines ganzen Koordinatensystems, seines ganzen symbolischen Bezugssystems, seiner „Welt“ bedeuten kann. Das ist eine Erfahrung, die Verräter immer wieder beschreiben: dass sie in ein Nichts fallen, sobald sie ihren Verrat begangen haben, dass sie sich in einem Zustand „außerhalb des Seins“ befinden. Hier geht es also darum, wie die kleinstmögliche Geste die größtmögliche Katastrophe auslösen kann: das Verschwinden einer Welt.

Solche Momente des Übergangs lassen sich als Schwellenmomente beschreiben. Diese tauchen als Motiv in vielen ihrer Projekte auf. Hat das einen bestimmten Grund?

Unter anderem, weil ich das Gefühl habe, dass solche Schwellenmomente, vielleicht weil sie dem Reich des Kleinen angehören, in der Geschichtsschreibung nicht ausreichend berücksichtigt worden sind. Geschichtserzählungen kommen ja üblicherweise immer wieder auf die Idee einer großen Trennung zwischen verschiedenen geschichtlichen Einheiten zurück. Früher hat man von Epochen gesprochen, bei Canguilhem oder Bachelard heißt es epistemischer Einschnitt, und Foucault spricht vom Bruch zwischen verschiedenen Epistemen. Gemeint ist, dass es immer eine bestimmte, abgrenzbare Formation gibt, dann kommt ein radikaler Bruch und danach gibt es etwas ganz anderes. Foucault selbst kommt in seiner Archäologie des Wissens in einer ganz merkwürdigen Formulierung auf die Frage zu sprechen, was denn eigentlich zwischen diesen Platten oder Blöcken ist. Er sagt dann einfach, dass es ein rätselhafter Übergang sei. Er beschreibt diesen zwar als katastrophisches Ereignis, aber es bleibt unklar, was genau passiert. In all meinen Arbeiten versuche ich, den Spalt zwischen den Einheiten, zwischen den Epistemen, genauer ins Auge zu fassen. Das heißt, nicht von den gewordenen Formationen auszugehen, sondern ihr Werden zu beobachten. Dabei kommt zwangsläufig die Mikro-Perspektive ins Spiel: Man kann sich vorstellen, was es heißt, beispielsweise den Übergang zwischen der klassischen Episteme und der humanwissenschaftlichen Episteme zu beschreiben: Das ist ein unglaubliches, über ganz Europa ausgebreitetes und verteiltes Geschehen von diskursiven Ereignissen. Daher ist es notwendig, sich auf einzelne Komplexe oder einzelne Situationen, die man in diesem Schwellenraum situiert, zu konzentrieren und diese einer genauen Beobachtung zu unterziehen. Man versucht, eine möglichst detaillierte Beschreibung von diesen Ereignissen des Werdens in einem begrenzten Raum zu liefern, wohlwissend, dass man damit nicht ‚alles‘ einfangen kann. Aber man hat damit die Möglichkeit, sich überhaupt in diesen Spalt oder Zwischenraum hineinzubegeben und zu sehen, was da passiert.

Und wenn man so einen Detailblick auf zeitlich und örtlich begrenzte Ereignisse richtet, verschwinden dann die großen Brüche zwischen den Blöcken?

Mir ist in meiner Arbeit aufgefallen, dass man nicht so leicht darum herumkommt, solche Trennungen vorzunehmen. Historische Erkenntnis beruht darauf, Unterscheidungen zu treffen und willkürliche Einschnitte vorzunehmen. Allerdings bin ich im Rahmen meiner Forschungen für das Illuminaten­-Projekt dazu gekommen, mir solche Zäsuren nicht mehr in einer Bildlichkeit von Block und Bruch, von Platte und Einschnitt vorzustellen, sondern als Risse in einem Stück Filz. Wenn man Filz zerreißt, hält man Fransen in der Hand. Man kann schon Grenzen erkennen, aber es gibt keine klaren Bruchkanten. So wäre es vielleicht besser, nicht von Brüchen oder Einschnitten zu reden, sondern von unvollständigen Rissen, von Rissen, die immer noch durch zahlreiche Fäden zwischen Altem und Neuem überbrückt werden. So z.B. im Fall der berühmten, höchst fragwürdigen Zäsur zwischen Mittelalter und Neuzeit: Man kann diese Unterscheidung wahrscheinlich kaum vermeiden, dazu erklärt sie zu viel. Auf der anderen Seite aber muss man sich bewusst sein, dass es keinen glatten Schnitt gibt, dass es einerseits natürlich auch im Mittelalter schon die – aus heutiger Sicht -– modernsten Entwicklungen gab, und dass sich umgekehrt bis ins 19. Jh. hinein zahlreiche Bräuche, Traditionen und Denkweisen des Mittelalters erhalten haben. Man könnte also von Strängen reden, die sich in unterschiedlicher Weise überlappen, dabei aber nie dieses Bild eines eindeutigen, datierbaren Bruchs ergeben.

Warum ist die Mikroperspektive ein geeignetes Werkzeug zum Operieren in diesen filzigen Übergängen?

Das ist eine Technik, die eher aus der Not geboren ist. Ich denke, es ist anders nicht möglich, mit solchen Materialmassen umzugehen. Man muss dazu sagen, dass die Foucaultsche archäologische Methode oder das, was er auch als Diskursanalyse bezeichnet, ein Versuch ist, mit großen Datenmengen umzugehen. Es handelt sich um den Versuch, unter sehr vielen Äußerungen ein Muster der Auftrittswahrscheinlichkeit und der Anschlusswahrscheinlichkeit zu finden, also eine Art serielle Analyse kultureller Phänomene zu einer bestimmten Zeit zu liefern. Ich denke, das hat mit der seriellen Geschichtsschreibung der 1960er Jahre zu tun, wo man zum ersten Mal die Möglichkeit gehabt hat, Massenquellen mit dem Computer auszuwerten, beispielsweise zur Ökonomiegeschichte. Mit dieser Methode kommt man eher dazu, große Formationen festzustellen, Muster und Strukturen freizulegen, aber nicht die einzelnen Ereignisse zu betrachten. Letztendlich hat die Diskursanalyse oder Archäologie nach Foucault einen grundsätzlich zusammenfassenden Zugriff auf verstreute Ereignisse. Es geht darum, aus verstreuten Aussagen ein bestimmtes Muster zu rekonstruieren oder eine bestimmte epistemische Formation greifbar zu machen. Foucault geht es eigentlich an keiner Stelle ums Detail, es geht ihm nicht um die einzelnen Schriften oder Zeugnisse von Menschen, die zu einer bestimmten Zeit gelebt haben, sondern es geht ihm letztendlich um die großen Mechanismen der Diskursproduktion. Das ist eine absolut unverzichtbare Art, das Ganze in den Blick zu nehmen, aber gleichzeitig würde ich sagen, dass es für Mediengeschichte auch darauf ankommt, die Zwischen­räume zu untersuchen, von denen Foucault nur als Rätsel sprechen kann. Gerade mediengeschichtliche Entwicklungen können unter Umständen darüber Aufschluss geben, wie man von der einen Episteme in die andere kommt und welche – natürlich erstmal nur zufälligen – Veränderungen zur Eröffnung einer neuen Wissensformation führen.

Wenn man davon ausgeht, dass der Wechsel der Episteme und die Medienentwicklung zusammenhängen, könnte man dabei auch schnell an eine Geschichte der „Großen Medien“ denken. Eine solche Form der Geschichtserzählung   problematisieren Sie selbst in einem Diskussionspapier für die AG  Mediengeschichte und vergleichen sie mit einer Geschichte der „großen Männer“. (2) Diese Art der Mediengeschichte firmiert als Medienarchäologie, die Geschichte als lineare Entwicklung hin zur Digitalisierung schreibt. Deckt sich das noch mit Foucault?

Ich glaube, dass die Foucaultsche Archäologie ein Versuch ist, die Geschichtsschreibung vom Ballast der Fortschrittserzählung zu befreien – eine mir sehr sympathische, anti-teleologische Form der Geschichtsschreibung. Zugleich habe ich das Gefühl, dass es bei einigen, die in der Kittler-Tradition stehen, eine Verwendung des Begriffs ,Archäologie‘ gibt, die dem eigentlich widerspricht. Wenn beispielsweise Wolfgang Ernst zugesteht, dass man sich durchaus auch mal mit Kulturtechniken befassen kann – aber letztendlich nur im Lich­te der Erkenntnisse, die wir heute über das Funktionieren der symbolischen Maschinen gewonnen haben – , dann glaube ich, dass das eine Rückprojektion unseres eigenen, heutigen Wissens über den Computer auf vergangene Zeiten ist. Letztendlich hat das mit dem Foucaultschen Projekt einer vorurteilslosen, distanzierten Analyse des Vergangenen nicht viel zu tun. Ich würde mir unter Medienarchäologie gerade eine radikale Enthaltung vorstellen, die sagt, wenn wir wissen wollen, wie zu einer bestimmten Zeit vermittelt wurde und wer oder was dabei als ,Medium‘ wirksam wurde, dann müssen wir unser heutiges technisches Medienwissen komplett ausklammern und uns in sehr genauer Weise ansehen, wie die Vermittlungsoperationen der jeweiligen vergangenen Kultur funktioniert haben. Ich denke, wenn es einem als Mediengeschichtler darauf ankommt, nicht immer nur Abenteuergeschichten zu erzählen, die auf unsere tolle Gegenwart hinauslaufen, dann muss man eher diese radikale Ausklammerung vornehmen und sagen: Wir wissen gar nichts über diese Zeit und sehen uns erstmal in Ruhe an, was da eigentlich läuft.

Es gibt eine Stelle in Foucaults Ordnung des Diskurses, wo er Gründe liefert, Archäologie zu betreiben:

„Die geringfügige Verschiebung, die hier für die Geschichte der Ideen vor­ geschlagen wird und die darin besteht, daß man nicht Vorstellungen hinter den Diskursen behandelt, sondern Diskurse als geregelte und diskrete Serien von Ereignissen – diese winzige Verschiebung ist vielleicht so etwas wie eine kleine (und widerwärtige) Maschinerie, welche es erlaubt, den Zufall, das Diskontinuierliche und die Materialität in die Wurzel des Denkens einzulassen. Drei Gefahren, die eine bestimmte Form der Historie zu bannen versucht, indem sie das kontinuierliche Ablaufen einer idealen Notwendigkeit erzählt. Drei Begriffe, mit denen sich an die Praxis der Historiker eine Geschichte der Denksysteme anknüpfen lassen müßte. Drei Richtungen, denen die theoretische Ausarbeitung wirdfolgen müssen.“ (3)

Was ist an dieser Maschinerie klein und was ist daran widerwärtig?

Diese Formulierung steht ja im Zusammenhang mit dem von Foucault geprägten Begriff des historischen Apriori. Apriori, für sich genommen, würde bedeuten, dass es Strukturen gibt, die unseren Erfahrungen vorausgesetzt sind und die mehr oder minder – nach dem Kantischen Modell – unveränderlich sind. Wenn nun Foucault von einer widerwärtigen kleinen Maschinerie spricht, die das durcheinanderbringt, dann meint er, dass in diesen Apparat des Apriori so etwas wie Geschichte eingeführt wird. Das heißt, die Strukturen, die unserer Erfahrung vorauslaufen, sind nicht für alle Zeit befestigt, sondern werden durch die Maschinerie des Historischen untergraben. Damit gibt es etwas innerhalb der Strukturen, das sie in gewisser Weise ständig umarbeitet, umpflügt und dann tatsächlich dazu führt, dass sie zu einer bestimmten Zeit in eine andere Struktur transformiert wer­den können. Ich glaube, das ist ungefähr das, was Foucault an anderer Stelle mit dem Rätselhaften umschreibt, also dieses Moment, was dafür sorgt, dass eine Struktur sich nicht nur immer selbst reproduziert, sondern irgendwann auch katastrophisch umkippt und in etwas anderes transformiert wird. Und widerwärtig? Ja, das ist natürlich für den Strukturalismus widerwärtig: die Annahme, dass es keine ewigen und rein geistigen Strukturen gibt, sondern dass die Zufälle und Unfälle der Geschichte diese Strukturen ständig umpflügen. Es ist ganz witzig, dass Foucault das zu einer Zeit schreibt, zu der auch Felix Guattari seinen Aufsatz Maschine und Struktur geschrieben hat, in dem es um die gleiche Entgegensetzung geht: (4) Einerseits die Strukturen, die als ewig und unveränderlich gefasst werden, und auf der anderen Seite ein kleines subversives Element, das diese Strukturen durchläuft und dafür sorgt, dass sie sich ständig verändern. Das ist letztendlich das Einsetzen von Post-Strukturalismus in der strukturalistischen Episteme.

Unser Heft fängt mit einem Zitat von Sigfried Giedion an, nämlich mit dem berühmten Kaffeelöffel, der auch die Sonne spiegelt. Giedion setzt in Herrschaft der Mechanisierung aus kleinen, sehr detaillierten Beobachtungen eine große Episteme der Mechanisierung zusammen. Wie geht das, dass man aus kleinen Erzählungen doch große Geschichte machen kann?

Es gibt ja eine lange Tradition dieser Methode, im Kleinsten das Große zu finden oder zu rekonstruieren. Letztendlich ist das eine alte magische Vorstellung, dass es eine Entsprechung zwischen Mikro- und Makrokosmos gibt, dass das kleinste Detail etwas aussagt über die Struktur des Ganzen. Man findet das bei Walter Benjamin, wenn er sagt, dass man in jedem einzelnen Moment den Kristall des Totalgeschehens finden kann. So sagt die kleinste Beobachtung, die man vor dem Schaufester einer Pariser Passage machen kann, etwas über die gesamte kapitalistische Warenwirtschaft aus. Die Gefahr, die möglicherweise in so einem Ansatz  liegt, ist vielleicht die der willkürlichen Auswahl, dass man, wenn man sehr viele Einzelstudien aneinanderreiht, vielleicht nicht so ganz plausibel machen kann, warum genau diese und warum nicht andere. Oder, dass die einzelnen Episoden so ausgesucht werden, dass sie eine bestimmte durchlaufende These nur allzu gut bestätigen. Die große Chance sehe ich aber darin, nicht auf der allerallgemeinsten Ebene stehen zu bleiben und tatsächlich immer nur die großen und auch als groß approbierten und anerkannten Medien zu berück­sichtigen. So hält sich Giedion an die kleinen und kleinsten technischen Erfindungen, nicht an die großen, sogenannten epochenmachenden Neuerungen. Auf diese Weise kann er zeigen, wie Mechanisierung den Alltag der Menschen ergreift und auf dieser Ebene wirksam wird.

Insgesamt liegt darin aber natürlich ein Darstellungsproblem, das auch mir selber gerade zu schaffen macht, nämlich bei meinem Lichtprojekt. Ich will eine Geschichte des Lichts in der Frühen Neuzeit schreiben, die in allen Registern spielt, also nicht nur Physikgeschichte des Lichts, nicht nur Kunstgeschichte, nicht nur Theologiegeschichte, nicht nur Metapherngeschichte, nicht nur Alltagsgeschichte, sondern eben alles zusammen. Es ist unmöglich, so etwas über einen Zeitraum von 300 Jahren durchzuführen, wenn man sich nicht auf ganz bestimmte Stationen beschränkt. Dabei ist es immer mein Ehrgeiz, Situationen zu finden, die für sich selbst genommen schon interessante Komplexe, ich nenne sie auch Intrigen, bilden. Also Geschichten, in denen alles, was mich interessiert, schon vorkommt, wo ich nicht mehr etwas hineinkonstruieren oder aus anderen Kontexten einfließen lassen muss, sondern wo ich eine historische Episode habe, die so stark gesättigt ist mit interessanten Details und Bezügen, dass ich letztendlich das Ganze nur noch aufzuschreiben brauche.  Die große Schwierigkeit ist, so etwas zu finden. Es erfordert wirklich eine brutale Geduld und vor allem auch letztendlich Glück, auf solche Geschichtchen zu stoßen, weshalb man es nicht so einfach planen kann. Es ist tatsächlich ein Projekt, das von sich aus ein gewisses Entgegenkommen zeigen muss, damit es zu irgendwas führt.

Können Sie uns ein Beispiel für eine solche Station nennen?

In einem Fall geht es zum Beispiel um eine wunderbare Augenwendung in der Münchner Peterskirche des Jahres 1783. Eine gemalte Madonna verdreht die Augen, was als großartiges Wunder gefeiert wird. Dieses Ereignis wird von einem sehr pfiffigen jesuitischen Astronomen als optische Augentäuschung auseinandergelegt, der sich dabei auf die gerade erst entwickelte Photometrie von Johann Heinrich Lambert stützt. Hier findet sich also das avancierteste wissenschaftliche Wissen der Zeit im finstersten Bayern wieder, am äußersten Rand des aufgeklärten Europas. Diese Episode gibt eine großartige Gelegenheit, eine Reihe von Geschichten zu erzählen über das Zusammenstoßen von Aufklärung und Volksaberglauben, von Barock und Klassizismus, von katholischem Augenaufschlag und dem geraden Blick des Aufklärers und so weiter. (5) Situationen zu finden, die so etwas hergeben und sich gut erzählen lassen, damit verbringe ich meine Zeit.

Wir finden es spannend, uns eine Mediengeschichte  vorzustellen, in der rationale Erklärungen gleichberechtig neben irrationalen Phänomenen stehen, wie eben in Ihrem finstersten Bayern. Belassen Sie es in Ihrer Beschreibung bei der historischen Rekonstruktion oder kann man die Erkenntnisse einer solchen Mediengeschichte auch auf die Gegenwart beziehen?

Man kann sich natürlich fragen: Warum das Ganze? Warum sollte man Mediengeschichte jetzt anders erzählen, als sie immer erzählt wurde? Eine Variante einer solchen anderen Geschichte liefert beispielsweise Siegfried Zielinski, der den Begriff der Medienarchäolgie geprägt hat. Er versucht den verschütteten Strängen der Medienentwicklung nachzugehen und den Medien der Vergangenheit Genugtuung zu verschaffen, die nicht verwirklicht wurden. Er geht den aus unserer Sicht toten Kanälen der Entwicklung nach und erforscht, was es alles an skurrilen und teilweise auch großartigen Erfindungen gegeben hat, die aber nicht anschlussfähig waren. Den Skurrilitäten der Vergangenheit nachzugehen finde ich in Ordnung, um der Rettung der Vergangenheit willen, aber für mich wäre Mediengeschichte immer auch als gegenwartsdiagnostisches Phänomen wichtig. Deshalb geht es mir bei meinen medienhistorischen Arbeiten weniger darum, was es alles an Medien-Diversity gegeben hat, sondern eher darum, wie Medien-Werden funktioniert. Wenn man sich die Geschichte ansieht, merkt man, dass alle Medienformationen aus einem Gewirr von sehr unterschiedlichen und sehr widersprüchlichen Entwicklungen hervorgegangen sind. Es gibt eine Unvorhersehbarkeit in der Technikentwicklung, die es verbietet, simple Extrapolationen in die Zukunft zu ziehen. Ich würde stattdessen sagen, alles ist komplett offen und man muss sowohl mit dem Schlimmsten als auch mit dem Besten rechnen. Man kann aus vergangenen Medienentwicklungen nicht ableiten, dass die Sache kontinuierlich weitergeht und sich bestimmte große Entwicklungen immer im Anschluss an anderes Großes entwickeln werden. Ich denke, es gibt tatsächlich so eine Art kleine widerwärtige Maschine, die dafür sorgt, dass unvorhersehbare Dinge passieren können.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Interview haben Johannes Hess und Fabian Kirchherr für die eject geführt.

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1 Vgl. Gilles Deleuze und Felix Guattari: Tausend Plateaus, übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullie. Berlin: Merve 1992, s. 113f.

2 Stephan Gregory: Medien und Mediationen. Was heißt und wie weit reicht Mediengeschichte?

3 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, übers. von Walter Seitter. Frankfurt a.M.: Fischer 2010, S. 38.

4 Vgl. Felix Guattari: Maschine und Struktur. In: ders.:Psycho­ therapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse, übers. von Grete Osterwald. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976,S. 127-138.

5 Siehe Stephan Gregory: Das Weiße im Auge. Geschichte eines Lichtflecks.  http://www. langsamesl icht.com/html/dt/ essays_3. html (Zugriff am 10.6.17)